Die schützende Geborgenheit, die das Neugeborene in der zunächst symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung erlebt, weicht sukzessive dem gleichermaßen im Menschen angelegten Bedürfnis, die Welt selbstständig zu erkunden. So wie das Kind im ersten Lebensjahr die Verbundenheit mit der Mutter als überlebensnotwendig erfährt, so exploriert es danach seine Umgebung auf Basis der erworbenen Bindungssicherheit.
Die Individuationsentwicklung beginnt in ersten Ansätzen noch vor Ablauf des ersten Lebensjahres: Der Säugling lernt, dass er ein von seiner Umgebung getrenntes, eigenes Wesen ist. Er nimmt die körperliche und psychische Getrenntheit von der Mutter wahr und erlebt diese als Person außerhalb des eigenen Selbst. Die Mutter ist zu diesem Zeitpunkt für das Kind bereits unverwechselbar geworden, aber erst mit etwa 18 Monaten hat der Säugling eine Vorstellung von sich und der Mutter, die auch dann erhalten bleibt, wenn die Mutter einmal nicht anwesend ist. Das Kind kann sich an sie erinnern und diese Erinnerungen trösten es, wenn die Mutter vorrübergehend abwesend ist.
Eltern müssen also bereit sein, das Kind zu einem unabhängigen Menschen entwickeln zu lassen, beziehungsweise dessen Individuationsphase zu fördern.
Die Abgrenzung und Selbstbehauptung zeigt sich zunächst in Form einer Trotzphase, aber auch darin, dass das Kind räumlichen Abstand zur Mutter sucht. Die Aufgabe von Mutter und auch Vater sind es nun, Toleranz für die ersten kleinen „Schritte“ des Kindes in Richtung Selbstständigkeit aufzubringen. Eltern müssen also bereit sein, das Kind zu einem unabhängigen Menschen entwickeln zu lassen, beziehungsweise dessen Individuationsphase zu fördern. Wenn diese Phase gut bewältigt wird, entwickelt das Kind die Fähigkeit, vorübergehend allein sein zu können. Es kann dabei trotzdem sein Selbstgefühl und die Beziehung zu den Bezugspersonen aufrechterhalten.
Liegt hingegen eine schwerlastende Lebenssituation bei den Eltern vor oder gar eine psychische Erkrankung, werden Kinder häufig – zumeist von einem der beiden Elternteile – zu deren Stabilisierung herangezogen, wodurch die Autonomieentwicklung nachhaltig behindert wird. Um unsicheren Familiensituationen nicht noch Vorschub zu leisten, passen sich die Kinder den Eltern zum Erhalt der Objekte (Menschen) an, aber zu Lasten eigener expansiver Strebungen. Schafft das Kind den Schritt in die Autonomie nicht, wird es lernen, sich selbst in seiner Bedürftigkeit zu verleugnen.
Im späteren Partnerschaftsleben wird sich dieses Kindheitsmuster mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholen. Die Betroffenen schränken ihre Unabhängigkeit zur Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Annahme ein. Ein pointiertes Verlangen nach besonders enger Bindung respektive Halt ist jedoch häufig gleichbedeutend mit einer Unselbstständigkeit. Die Verantwortung für das eigene Leben wird abgegeben und in der Folge besteht die Gefahr, sich in zahlreichen Lebenssituationen auch als Opfer zu erleben.
Insbesondere werden eigene Wünsche und Bedürfnisse dem Partner aus Angst vor Objektverlust nicht mitgeteilt, sodass die Menschen unter Wendung der (unterdrückten) Wut gegen das Selbst dekompensieren. Im Fachjargon heißt es dann: Die Phantasie, dass die eigene Autonomieentwicklung die Objekte schädigen könnte, muss noch bearbeitet werden.