Psychologie Kulturkritik

Biographie & Vergangenheit

26 März 2017

Markus Thiele

Biographie & Vergangenheit

Lesenswerte Auszüge aus einem Interview mit dem Titel: “Die Macht der Vergangenheit” von Tilman Botzenhardt und Claus Peter Simon mit Rainer Richter in der Zeitschrift GEO GESUNDHEIT, Ausgabe Nr. 4 vom 20.09.2016:

Der Professor für Psychologie Rainer Richter erklärt, wie das Wissen um die eigene Biografie das Leiden lindern kann – und weshalb manche Erinnerungen besser im Verborgenen bleiben.

Herr Professor Richter, wie wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Biografie eines Menschen für die Therapie seines psychischen Leidens?

Die meisten von uns fragen sich irgendwann, warum sie so geworden sind. Was hat meine gegenwärtige Situation damit zu tun, was ich bisher in meinem Leben getan und mitgemacht habe? Besonders dringlich stellt sich diese Frage, wenn Menschen sich in einer Krise befinden, etwa wenn eine Liebesbeziehung endet oder der Arbeitsplatz verloren geht. Dann stoßen sie in ihrer Biografie oft auf emotionale Belastungen im Zusammenhang mit dem, was Psychologen als Brüche in der Entwicklung bezeichnen.

Können solche Brüche zu Auslösern einer Depression werden?

Es gibt zwei Grundmuster, die in der Biografie von depressiven Patienten immer wieder auftreten. Das erste sind Erfahrungen, die mit zu wenig emotionaler Zuwendung zusammenhängen. Das zweite betrifft Erlebnisse, bei denen der Selbstwert des Patienten gekränkt wurde. Wer an einer Depression leidet, hat in seinem Leben oft viele solche Situationen durchlebt.

Und die lassen sich bis in die Kindheit zurückverfolgen?

Viele Patienten berichten, dass ihre Eltern ihnen als Kind nur wenig Liebe entgegengebracht haben. Ihre Mütter und Väter haben sie zwar nicht physisch vernachlässigt – sie waren „satt und sauber“, wie Psychologen sagen. Aber über das reine Versorgen hinaus haben die Eltern ihrem Nachwuchs kaum Nähe und Wärme spüren lassen.

Verdrängung gehört zu den hilfreichen Abwehrmechanismen der Psyche und ist daher an sich erst einmal etwas Gesundes.

Hilft die Einsicht in biografische Zusammenhänge einem Patienten, sein psychisches Leid zu überwinden?

Die Einsicht allein bewirkt meist noch wenig – aber sie schafft eine große Motivation, den eigenen Zustand zu verändern. Der Patient muss sich dann in der Beziehung zu seinem Therapeuten über seine gestörte Emotionalität auseinandersetzen. Etwa indem er Situationen, unter denen er in seiner Kindheit gelitten hat, in der Beziehung zum Therapeuten in ähnlicher Weise erneut durchlebt. Dem Therapeuten gegenüber können dann Einstellungen, Wünsche und Gefühle gelebt werden, die ansonsten unterdrückt sind.

Gibt es Vorgänge aus der Vergangenheit, an die man nicht rühren sollte – die man sogar besser verdrängt?

Verdrängung gehört zu den hilfreichen Abwehrmechanismen der Psyche und ist daher an sich erst einmal etwas Gesundes.

Es muss also in einer analytischen Therapie nicht alles aus der Vergangenheit auf den Tisch kommen?

Keineswegs. Allerdings haben diese verdrängten Einstellungen, Emotionen und Wünsche die unangenehme Eigenschaft, aus der Tiefe des Unbewussten an die Oberfläche, also ins Bewusstsein zu drängen und dabei Symptome und Beschwerden zu verursachen. In dem Fall muss man klug entscheiden, ob man dem verdrängten nachspüren und dem Patienten dabei helfen soll, entsprechende Probleme zu lösen.

Lässt sich eine Depression durch eine Psychotherapie vollständig heilen?

Der Betreffende wird weiterhin eine wunde Stelle haben, die immer mal wieder Probleme bereiten kann. Aber nach einer erfolgten Psychotherapie wird der Patient für aktuelle Belastungen besser gewappnet sein als zuvor.

Könnte man das nicht auch schlicht mit Psychopharmaka erreichen?

Da bin ich skeptisch. Faszinierend ist vielmehr, dass die neurowissenschaftliche Forschung gezeigt hat, dass längere Psychotherapien nachweislich strukturelle Veränderungen im Gehirn nach sich ziehen. Eine ausschließliche Behandlung mit Medikamenten geht dagegen von einem biologistischen Menschenbild aus. Ich erlebe mich aber doch nicht als Individuum, dass durch Neurotransmitter gesteuert wird, sondern als sich selbst steuerndes Lebewesen, das sich selbstreflexiv fragt, warum es so geworden ist, wie es ist.