Psychologie Kulturkritik

Der Raum als Echo der Seele: Psychoanalyse und Architektur

26 November 2025

Markus Thiele

Der Raum als Echo der Seele: Psychoanalyse und Architektur

„Das Ich ist vor allem ein körperliches“, notierte Sigmund Freud – ein Satz, der die Verbindung von Psychoanalyse und Architektur auf den Punkt bringt. Das Ich ist keine abstrakte Instanz, sondern eine Haut, eine Grenze, eine Hülle. Die Seele braucht Form, um zu bestehen. Wo der innere Raum zerfällt, schwindet auch der äußere Halt.

Der therapeutische Raum ist die gebaute Form dieses Prinzips. Er ist keine Kulisse, sondern ein präzises Gefüge aus Nähe, Distanz und Schweigen. Der Patient liegt, der Analytiker sitzt – zwischen ihnen öffnet sich ein Zwischenraum, in dem das Unbewusste zu sprechen beginnt. Der britische Analytiker Wilfred Bion nannte das Halten unbearbeiteter Affekte Containment: Der Analytiker nimmt das Unverdauliche auf, hält es und gibt es verwandelt zurück. Doch auch der Raum selbst hält – durch Maß, Gleichmaß, Temperatur. Seine Stille ist ein Gegenüber.

Eine meiner Patientinnen, die in einem Haus mit großen Glasfronten lebt, verliert nachts die Grenze zu ihrem Körper. Erst als sie Vorhänge und Stoffe anbringen lässt, entsteht eine zweite Haut – sie hört wieder ihr eigenes Atmen. Ein Ingenieur, erschöpft von der Arbeit im Großraumbüro, findet bei mir im Therapiezimmer Konzentration: gedämpftes Licht, Rhythmus, Verlässlichkeit. Später baut er sich am Arbeitsplatz einen Sichtschutz – ein kleiner Schutzraum aus Glas und Stoff. Eine meiner Patientin, die stets zunächst im Türrahmen verharrt, wagt sich nach Wochen auf die Couch: Der Raum nimmt sie auf, die Grenze wird Beziehung. Und ein älterer Patient, der sich im Blick aus dem Fenster verliert, findet durch das Zuziehen des Vorhangs eine sanfte Grenze, die ihm Schutz statt Abwehr schenkt.

Jacques Lacan sah das Subjekt als durchlöchert, als Gewebe aus Spiegelungen und Grenzen. Architektur ist das materielle Echo dieser Struktur: Sie gibt Form, wo Chaos droht, und Öffnung, wo Erstarrung lauert. Das analytische Zimmer ist eine Topologie des Begehrens – ein Raum, der hält, ohne festzuhalten.

Peter Zumthor spricht von Atmosphäre, jenem kaum fassbaren Zusammenspiel aus Material, Licht und Klang. Seine Räume, etwa die Thermen von Val, sind Körper, die atmen. Sie erzeugen eine dichte, schützende Hülle – das architektonische Äquivalent von Containment. Gaston Bachelard wiederum deutete das Haus als „erstes Universum“ der Seele. In Dachboden, Keller und Nische erkannte er die Archäologie des Unbewussten. Eine meiner Patientinnen, die lange ruhelos blieb, richtet sich in einer kleinen Dachwohnung eine Ecke mit Sessel, Lampe und Teppich ein. „Ich habe mir ein Nest gebaut“, sagt sie. In diesem Nest findet sie, was Bachelard Geborgenheit nennt: die Möglichkeit, endlich zu träumen.

Der therapeutische Raum ist nicht nur eine statische Hülle, sondern eine tief verankerte zeitlich-räumliche Architektur, in der Heilung möglich wird.

Freuds Arbeitszimmer in der Berggasse 19 war ein solcher Raum des Haltens. Teppiche dämpften Geräusche, Bücher und Antiken gaben Kontinuität. Über Jahrzehnte blieb alles unverändert – die äußere Stabilität war Bedingung innerer Bewegung. Freud wusste: Veränderung braucht Wiederkehr.

So teilen Psychoanalyse und Architektur dieselbe Ethik der Grenze. Offenheit ohne Form führt zur Auflösung, Form ohne Offenheit zur Erstarrung. Der heilende Raum vermittelt zwischen beiden. Er antwortet auf das Unsagbare mit Licht, Maß und Wiederkehr. Er heilt nicht durch Stil, sondern durch Haltung. Nur was gehalten wird, kann sich verwandeln.

Der therapeutische Raum ist nicht nur eine statische Hülle, sondern eine tief verankerte zeitlich-räumliche Architektur, in der Heilung möglich wird. Zwei dynamische Elemente sind dabei von zentraler Bedeutung: die zeitliche Struktur von Wiederholung und Rhythmus sowie die psychische Dichte des Zwischenraums zwischen dem Patienten und dem Analytiker.

Viele psychische Leiden sind durch das Chaos traumatischer oder kränkender Erfahrungen gekennzeichnet. Die Wiederholung des therapeutischen Settings – dieselbe Uhrzeit, derselbe Tag, derselbe Ort – schafft hier eine notwendige zeitliche und räumliche Verlässlichkeit. Sie ist ein architektonischer Anker, der dem unbewussten System signalisiert, dass die Struktur stabil ist und standhält. Diese Vorhersagbarkeit ermöglicht es dem Patienten, seinen eigenen inneren Rhythmus wiederzufinden. Wie der Atem, der im sicheren Raum wieder zu hören ist, so gestattet die rhythmische Abfolge von Sprechen und Schweigen, von Assoziation und Deutung, die Rückkehr zum eigenen inneren Tempo und der eigenen ruhigen Atmung. Diese Konstanz bildet die Bühne, auf der die alten, dysfunktionalen Beziehungsmuster in einem sicheren Rahmen neu erlebt und bearbeitet werden können.



Der eigentliche Ort der Transformation ist jedoch der Zwischenraum, der sich typischerweise im Bereich der Couch und des Sessels oder zwischen den beiden Sesseln öffnet. Dieser Raum ist die physische Manifestation des potenziellen Raumes nach Winnicott: Er ist weder innen noch außen, sondern ein neutraler Spielplatz der Psyche. Indem der Blickkontakt durch die Anordnung der Couch weitgehend reduziert wird, entsteht eine Leinwand oder eine Leere. Diese Leere ist hochfunktional; sie zwingt den Patienten, sich auf seine innere Welt zu konzentrieren und den Zwischenraum mit seinen unbewusstenBildernundFantasien zu füllen. Die Stille und die Abwesenheit direkter visueller Rückmeldung schützen diesen Prozess: Sie verhindern, dass die projizierten Gefühle des Patienten sofort durch die Mimik oder Gegenreaktion des Analytikers “kontaminiert” werden. Der Zwischenraum fungiert somit als die Zone, in der die unbewussten Affekte in die Sprache überführt werden können, was ihn zum fruchtbaren Ort für die psychische Arbeit macht. Er ist die Essenz des Containments, das die Projektionen hält, bis sie sprachlich entschlüsselt und integriert werden können.

Oder einfach gesagt: “Wohlmöglich kann äußere Ordnung auch innere Ordnung stiften.” Siehe SZ-Artikel “Raum für Gefühle” vom 29.10.2025 und den dazu passenden Instagram-Post des SZ-Magazins vom 01.11.2025, für den wir unseren Praxisraum für einen kurzen Augenblicklick geöffnet hatten.