Psychologie Kulturkritik

Introspektion und Empathie in der Psychotherapie

26 Februar 2019

Markus Thiele

Introspektion und Empathie in der Psychotherapie

Empathisch zu sein, hat einen höchst emotionalen Streitwert. Dieser wird meist dann ins Feld geführt, wenn man sich unverstanden fühlt. Die Forderung nach Empathie bedeutet im Gefecht des wutgeladenen Austauschs auch: Versteh mich, aus mir und meiner Logik heraus. Denn es gibt eine Motivation zu ergründen, die du nur verstehst, wenn du, so weit es eben zulässig ist, meine Perspektive einnimmst.

Empathie ist also näher am Mitgefühl als am Mitleid zu messen. Die Philosophin Hannah Arendt schreibt, dass im Mitleid die Fähigkeit verloren geht, konkrete Beziehung zu handelnden Menschen herzustellen, um so eine Situation der Freiheit einzurichten. Nimmt man dem Begriff der Solidarität, den sie dem Mitleid entgegensetzt, die politische Konnotation, leitet er zu dem über, was Heinz Kohut über Empathie schreibt.

Empathie, so der Psychoanalytiker Heinz Kohut, ist wie „den Widerhall ihrer (oder seiner) inneren Erlebnisse in uns zu hören.“ Anlass ist, eine Verständnisgemeinschaft mit dem Gegenüber zu bilden – Solidarität herzustellen. Kohut (1913 bis 1981), der das Konzept des Narzissmus ebenso maßgeblich nicht zuletzt durch seine zugängliche prosaische Schreibweise, die psychoanalytische Beobachtungen und Theorien zum Gegenstand hat, und geprägt hat, verwendet die Begriffe Empathie und Introspektion als Begriffe für die Ausdrücke Zugang zu anderen und Zugang zu sich selbst: Empathie ist das Sich-Einfühlen in die Introspektion anderer.

Empathie ist die notwendige Methode, um innere Welten, einem Biologen die Natur oder einem Astrologen das Universum gleich, zu beobachten. Introspektion, also die Selbstbeobachtung der eigenen Innenwelt, tut dies auch, jedoch läuft sie dabei auch Gefahr, gleichzeitig auch Flucht vor der Realität zu sein.

Empathie ist die Fähigkeit, sich in seine „eigenen frühen Organisationen einzufühlen“, um sich mit dem Selbst-Beobachter identifizieren zu können.

Für jegliches psychologisches Verständnis spielen beide Begriffe eine entscheidende Rolle. Beide gelten als Beobachtungswerkzeug: „Unterliegt die Introspektion dem Lustprinzip“, so Kohut, kann sie zur „passiven Hingabe an die Phantasien“ werden. Phantasien sind aber weniger Teil einer gesetzten, dafür aber einer möglichen Realität, deren Narrativ in psychoanalytischen Prozessen eine wichtige Rolle spielt.

Introspektion als grundlegende Erkenntnisquelle der Analyse wird deshalb auch mit Furcht begegnet, weil es erstmal einen Aufschub der Handlung bedeutet, obwohl es doch Vorbereitung auf eine neugewonnene Art der Handlungsfreiheit sein soll.

Empathie ist die Fähigkeit, sich in seine „eigenen frühen Organisationen einzufühlen“, um sich mit dem Selbst-Beobachter identifizieren zu können. Sie ist umso anfälliger für emphatische Missverständnisse, wenn es sich dabei um die sogenannten Primärprozesse handelt. Hierzu gehören Kompromissbildungen, Verdichtungen, Verschiebungen und somatische Symptombildungen des selbstbeobachtenden Ichs. Leichter fällt dies bei Sekundärprozessen, die der Introspektion und Empathie schlichtweg zugänglicher sind: wie logisches Denken, zielbewusstes Handeln, Wählen und Entscheidungen treffen.

„Das Hauptinstrument der psychoanalytischen Beobachtung ist die Introspektion. Wir müssen daher die psychoanalytische Bedeutung des Terminus „zwischenmenschlich“ genauer definieren: nämlich als ein Erleben der Beziehungen verschiedener Personen zueinander, das introspektiver (oder einfühlender) Beobachtung unterworfen ist. (…) Die Grenzen der Psychoanalyse sind durch die Grenzen von Introspektion und Empathie gegeben.“

Empathie ist also mehr als der bewusste Vorgang des Sich-Einfühlens etwa in die Erzählung des besten Freundes über das tragische Ende seiner Liebe. Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Introspektion eines Gegenübers einzufühlen und so psychoanalytische Prozesse überhaupt erst möglich zu machen.