Psychologie Kulturkritik

Malignant Memories

26 Juli 2017

Markus Thiele

Malignant Memories

Der Wiederholungszwang ist auf der Ebene der praktischen Psychopathologie ein nicht bezwingbarer Prozess unbewusster Herkunft, wodurch das Subjekt sich aktiv in unangenehme Situationen bringt und so alte Erfahrungen wiederholt, ohne sich des Vorbilds zu erinnern, im Gegenteil den sehr lebhaften Eindruck hat, dass es sich um etwas ausschließlich durch das Gegenwärtige Motiviertes handelt.

In seinen theoretischen Abhandlungen über den Wiederholungszwang betrachtet Freud diesen als einen autonomen, letztlich nicht auf eine konflikthafte Dynamik reduzierbaren Faktor, bei dem nur das vereinte Spiel des Lustprinzips und des Realitätsprinzips am Werk ist. Er wird ausschließlich der allgemeinen Eigenschaft der Triebe zugeschrieben, ihrem konservierenden Charakter.

Nachfolgend sehr lesenswerte, aktuell diskutierte Überlegungen zusammenfassende, Auszüge aus: “Der Wiederholungszwang” (2011 – 02) von K. Grochowiak:

“Seit den Anfängen der Psychotherapie bei Freud war es ein Rätsel, warum bestimmte Symptome trotz langjähriger Behandlung einfach nicht aufhörten. (Freud führte den Begriff des Wiederholungszwangs 1920 in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ ein.) Die Klienten schienen geradezu unter einem Zwang zu leiden, ein selbstschädigendes Verhalten immer wieder zu wiederholen. Der Wiederholungszwang gehört zu den wichtigsten und in ihren Ursachen dunkelsten Erscheinungen im Forschungsbereich der Psychologie. Da lässt sich jemand immer neu auf Aufgaben ein, an denen er schon häufig gescheitert ist, und mit dieser Erfahrung ist der abermalige Misserfolg gleichsam vorprogrammiert. Da wird nach dem Scheitern einer Ehe eine Liebeswahl getroffen, die dem gleichen Imago entspricht; es wird also der Fehler wiederholt, der ein neues Scheitern zur Folge haben muss. In der Beziehung zu nächsten Angehörigen werden Streitpunkte, über die man sich nie einig werden konnte, stets neu aufgebracht, auch wenn sie längst unwichtig geworden sein sollten. Zum Typ des Unfällers gehört es, dass er sein Unglück immer wieder unbewusst arrangiert. Die Unfähigkeit, sich von früherem Unheil zu lösen, ist im Extrem das Kennzeichen einer traumatischen Neurose. Diese Erscheinungen des Wiederholungszwanges, die »jenseits des Lustprinzips« liegen, führten Freud zu der Annahme eines Todestriebes, der darauf ausgerichtet sei, den Zustand vor der Geburt wiederherzustellen. 

Das Wort “Wiederholungszwang” ist keine Erklärung, sondern nur ein Label, das das beobachtete Verhalten bezeichnet. Klar ist jedoch, dass viele Menschen gerade darum einen Therapeuten aufsuchen, weil sie bemerken, dass sie selbst nicht in der Lage sind, ein für sie selbst unvorteilhaftes Verhalten beenden zu können, und auch nicht verstehen, warum sie immer wieder am Versuch, dieses zu beenden, scheitern.

Klar ist, dass beim Wiederholungszwang der adaptive Charakter unseres Lernens ausgeschaltet ist – wir lernen gar nichts! Es gibt auch die Hypothese, dass die jeweilige Person im Wiederholungszwang versucht, ein altes Trauma doch noch zu lösen, obwohl es in den jeweiligen Kontexten gar nicht zu lösen ist. Oder eine andere Hypothese geht davon aus, dass sich im Wiederholungszwang eine Art Schuld-Sühne-Dynamik ausdrückt; es wird durch die Selbstschädigung ein unbewusstes Strafbedürfnis realisiert. Bei Hellinger finden wir Äußerungen wie: “Für manche ist Leiden leichter als Heilung.” Dieser Äußerung beinhaltet eine Art indirekten Vorwurf an den Klienten. Der Klient will, angeblich, nicht aus der Bindung an die Eltern und ihren Lebensstil aussteigen.

Wenn wir also schon früh in unserer Entwicklung erlebt haben, dass unser Bedürfnis nach Nähe oft mit einer Ablehnungserfahrung verbunden war, die für uns schmerzhaft war, dann wird das Bedürfnis nach Nähe mit Schmerz assoziiert und entweder vermieden, oder man kann sich Nähe ohne Schmerz gar nicht vorstellen und sucht daher Beziehungen, die diese ursprüngliche Erfahrung immer wiederholen.

Da das Überleben eines menschlichen Kleinkindes vollständig von der Beziehung zur Mutter (bzw. einer anderen Person) abhängig ist, sind sich heute Forscher aus den unterschiedlichsten Disziplinen einig, dass die frühe Mutter-Kind-Beziehung einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns hat.

Während seiner gesamten Entwicklungsphase wird die spezifische Struktur der synaptischen Verbindungen, der Neurotransmitter usw. durch die konkreten Erfahrungen des Individuums mitbestimmt. Und so kann ein Gehirn entstehen, welches auf der Basis von „malignant memories“ (Schwarz & Perry, 1994) operiert. Die konkreten Erfahrungen werden aber meist nicht erinnert, sondern in den Gefühlen und Handlungen ausagiert. In solchen Situationen fühlen sich die Menschen nicht mehr frei in ihren Handlungsalternativen, vielmehr haben sie den Eindruck, dass man in einer solchen Situation gar nicht anders reagieren kann.

Schon Freud hatte die Hoffnung, eine wissenschaftliche Psychologie zu begründen, musste dieses Projekt aber angesichts der fehlenden neurobiologischen Informationen aufgeben. Heute sieht die Situation wesentlich anders aus. Seit einigen Jahrzehnten hat sich die Neuropsychologie als eigenständiges Forschungsgebiet etabliert.

Wenn wir also schon früh in unserer Entwicklung erlebt haben, dass unser Bedürfnis nach Nähe oft mit einer Ablehnungserfahrung verbunden war, die für uns schmerzhaft war, dann wird das Bedürfnis nach Nähe mit Schmerz assoziiert und entweder vermieden, oder man kann sich Nähe ohne Schmerz gar nicht vorstellen und sucht daher Beziehungen, die diese ursprüngliche Erfahrung immer wiederholen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der synaptischen Plastizität ist die Langzeit-Potenzierung (LTP). Dabei handelt es sich um eine Form, in der Synapsen lernen. Wenn eine Nervenzelle über einen kurzen Zeitraum sehr viele Impulse erhält, dann reicht danach ein kurzer, schwacher Impuls aus, damit die Nervenzelle feuert. Die Synapse ist für diesen Impuls sensibilisiert.

Was aber noch wichtiger ist, ist die Tatsache, dass diese Sensibilisierung Jahre aufrechterhalten wird. Dies erklärt das Phänomen, das oft nur ein Blick oder eine Bemerkung ausreichen, um ein altes neurologisches Muster und damit alte Erfahrungen zu reaktivieren. Diese Reaktivierung kann für uns angenehm sein, weil wir z. B. sofortigen Zugriff auf eine früher erworbene Fähigkeit haben, es kann aber auch sehr unangenehm sein, weil wir in einen kindlichen Zustand regredieren und uns z. B. wie ein kleines trotziges Kind verhalten.

Die LTP ist auch der Mechanismus, mit dem wir uns unter anderem auf andere eintunen. Neurone haben die Fähigkeit, auf bestimmte Frequenzen stärker zu reagieren als auf andere und diese dann entsprechend zu verstärken. Durch diese Resonanz werden ganze Nervennetze in ihrer Aktivität synchronisiert.

Dieser Mechanismus könnte auch erklären, warum sich manche Menschen immer wieder Partner suchen, die ihnen nicht guttun. Sie erkennen ein Muster aus ihrer Kindheit, welches sofort zu einer Hinbewegung führt. Unsere Neuroplastizität führt über die Mechanismen der Hebbschen Plastizität (Anm. M.T.: Die hebbsche Lernregel ist eine vom Psychologen Donald Olding Hebb aufgestellte Regel zum Zustandekommen des Lernens in neuronalen Netzwerken bzw. in einem Verband von Neuronen, die gemeinsame Synapsen haben.), der LTP und der Resonanz zu dem, was wir unser implizites Gedächtnis oder unser Unbewusstes nennen können. 

In diesem impliziten Gedächtnis befinden sich nach traumatischen Ereignissen von Perry und Pate so genannte “malignant memories” oder bösartige bzw. krankmachende Erinnerungen. In dem Moment in dem diese unbewussten Erinnerungen aktiviert werden, agieren wir zwanghaft und ohne Kontrolle auf der Basis dieser traumatischen Erfahrungen.”