Wikileaks Gründer Julian Assange saß lange in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Die Schuld, die er auf sich geladen hat, war der Leak von Informationen, die nicht an die Öffentlichkeit geraten sollten. Ähnlich verhält es sich mit dem Gefühl der Scham. Nur ist man sich bei diesem Leak sein eigener Whistleblower: Scham entsteht genau dann, wenn private bzw. intime Anteile des Selbst ungewollt Eintritt in die Öffentlichkeit haben.
Auch wenn es sich hier um einen wechselseitigen Prozess zwischen sich selbst und der Öffentlichkeit handelt bedeutet es eben nicht, dass diese verborgenen Anteile immer von jemand anderem verraten werden müssen. Die Scham kann genauso auf sich selbst zurückfallen, indem man sich selbst unkontrolliert verrät.
Kinder kennen das Gefühl der Scham deshalb nicht, weil es aus einer Diskrepanz zwischen Selbstbild und Sosein entspringt. Also einer Reflexion, die bei Kindern noch nicht vorhanden ist. Bleibt man hinter dem zurück, wie man vor den anderen erscheinen möchte, entsteht eine Lücke. Diese Lückenhaftigkeit wird fühlbar als Scham. Sie kann sich sowohl auf äußere Merkmale wie aber auch auf innere Vorgänge beziehen.
Sie ist ein wichtiger Hinweis auf Selbsterkenntnis. Schamfreiheit ist nur dann erreichbar, wenn Darstellung und Sein deckungsgleich sind. Allerdings lauert sie überall, da es kaum eine vollkommene Weise gibt, sich vollständig nach außen zu kehren.
„Geheimnisse, verborgene Wünsche und Empfindungen, Gedanken oder innere Welten werden durch Scham geschützt. Und zwar nicht nur vor anderen, sondern auch vor eigener Erkenntnis. Deshalb ist keine Psychotherapie, aber auch keine Liebesbeziehung ohne begleitende Schamgefühle denkbar: Denn beide wirken wie ein Spiegel der Selbsterkenntnis“, fasst der Psychologe Micha Hilgers zusammen.
Allein der Umstand eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen, kann zu Schamgefühlen gegenüber den Kolleginnen, der Familie oder Freunden – insbesondere aber vor dem noch fremden Therapeuten – führen.
Die therapeutische Situation ist hinsichtlich der Scham prekär: Denn der Psychotherapeut bewegt sich an der Schamgrenze des Klienten, ohne sie übertreten zu dürfen. Obwohl Scham eben auch Ausdruck von tieferliegenden Angst-, Unsicherheits-, Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühlen sein kann, die es zu erkennen gilt. In der therapeutischen Behandlung geht es deshalb um die getroffenen Aussagen über das Selbstbild, die mit den Situationen, in denen Scham entsteht, korrelieren. Und um die Schwierigkeit in dieser Ambivalenz die Schamgrenze zu betrachten.
Allein der Umstand eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen, kann zu Schamgefühlen gegenüber den Kolleginnen, der Familie oder Freunden – insbesondere aber vor dem noch fremden Therapeuten – führen.
„Die Rahmenbedingungen der Therapie: feste Zeiten, Honorare, Kassenregelung, Urlaubsabsprachen und nicht zuletzt das Setting (Liegen, Sitzen, Stundenfrequenz) schützen die Arzt-Patientenbeziehung und tragen dazu bei, dass der Patient sich trotz der für ihn demütigenden Situation öffnen kann“, sagt die Psychoanalytikerin Franziska Henningsen.
Deshalb ist das vielleicht gerade der Grund, aus dem man sich im Moment großer Scham nicht wünschen sollte, dass der Boden aufreißt. Vielmehr dass sich ein Weg auftut, wohlmöglich ein nicht genau vorhersehbarer, sich reflexiv und produktiv mit dem eigenen Selbstwertempfinden auseinandersetzen zu können.