Psychologie Kulturkritik

Tinder & Liebe

26 August 2018

Markus Thiele

Tinder & Liebe

„Die Liebe überbietet fort und fort sich selbst, obwohl doch der andere, der bietet, sie selber ist und sie insofern der einzige beim Bieten ist.“ Dieser Gedanke zum Thema Liebe ist in einem der zahlreichen Briefe zu lesen, die der Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard an seine Verlobte Regine Olsen schrieb. Das ist über hundert Jahre her.

Liest man den Satz heute, liegt der Schwerpunkt der Interpretation nicht unbedingt auf dem philosophischen Gehalt, sondern auch auf den marktähnlichen Strukturen, die hier das Wesen der Liebe beschreiben wollen. Überbieten? War das nicht das Prinzip von Ebay? Die Geschichte der Dating-App Tinder startet 2012 an der University of Southern California. Mittlerweile hat sie den Campus längst verlassen und verbindet täglich bis zu 26 Millionen Menschen miteinander.

Tinder funktioniert ähnlich wie eine Onlinebestellung im Internet. Das Profilbild eines Menschen in der Nähe erscheint, ein Wisch nach links bedeutet: I don’t like, ein Wisch nach rechts jedoch: I like. Kontaktaufnahme ist dann möglich, wenn der andere ebenfalls in die rechte Richtung swiped. Irgendwie schon auffällig: Mit einem Wisch von der Seite des Herzens weg soll die Beziehung zueinander beginnen. Tinder-sprachlich nennt man das Match. Entweder Zufall oder programmatisch für den Umgang mit Gefühlen in der Gegenwart.

Mit der Entwicklung der Tinder-App tritt eine Art „Gamification“ zu dem Liebesspiel hinzu, die allerdings weniger mit Liebe als mit Spiel zu tun hat. Die Unverbindlichkeit des Likes wird hierbei zu einem „Gewinn“ oder einer „Niete“, sozusagen zum Rubbellos-Prinzip erhoben. Steigt die Anzahl der Matches, wird Dopamin ausgestoßen.

Khuê Phạm schreibt 2016 im Zeitmagazin: „Die klassischen Liebesdramen von Shakespeare und Tolstoi handelten davon, dass einem die bürgerliche Gesellschaft den Weg zum geliebten anderen versperrte. Das heutige Liebesdrama handelt von uns selbst: Es scheint, als suchten wir nicht so sehr nach dem einen anderen Menschen als nach dem Kick, der Anerkennung, der Rettung vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Sind wir zu selbstverliebt, um andere zu lieben?“

Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein und darüber die Anerkennung zu bekommen, die man benötigt, kann im Umkehrschluss auch in der Depression über die eigene Reproduzierbarkeit enden.

Studien ergaben, dass insbesondere Männer unter dem Tinder-Prinzip häufiger zu depressiven Verstimmungen tendieren. Erklärt wird dies damit, dass sie sich in eine emotional verletzliche Situation begeben, derer sie sich jedoch nicht bewusst sind. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als das feilgebotene Selbstwertgefühl, jedoch scheinbar anonym. Sozialpsychologisch nennt man dies das Stranger-in-the-Train-Phänomen. Dieses beschreibt, dass es manchmal leichter ist, sich Fremden gegenüber zu öffnen, weil die Anonymität sich schützend über die vermeintliche Intimität legt.

Die Vernetzung der Menschen durch Dating-Apps ist nicht per se schlecht. Für Menschen, die sich in der realen Welt nicht trauen, jemanden anzusprechen, weil sie an geringem Selbstwertgefühl, an Schüchternheit oder sozialer Phobie leiden, kann dies die einzige Möglichkeit sein, überhaupt in Kontakt zu treten. Jeder kennt mittlerweile die Geschichte eines Paares, das nach einem Tinder-Match vor den Traualtar getreten ist. Allerdings sollte bei der Nutzung dieser Portale immer auch bewusst sein, dass die virtuelle Welt noch in die reale überführt werden muss: Erst dann stellt man fest, ob die Selbstdarstellung bis hin zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung reicht oder ob man den anderen im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt riechen kann.

Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein und darüber die Anerkennung zu bekommen, die man benötigt, kann im Umkehrschluss auch in der Depression über die eigene Reproduzierbarkeit enden. Michael Nast, der Autor von „Generation Beziehungsunfähig“ schreibt: „Wir werden zu unserer eigenen Marke. (…) Die Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit, von der heutzutage so viel geredet wird, ist nichts anderes als das Streben nach universeller Selbstverwirklichung, nach vermeintlicher Perfektion.“

Kierkegaard hat übrigens die Verlobung zu Regine Olsen aufgelöst. Nicht, weil er sie nicht mehr liebte, sondern weil er glaubte, ihr kein „perfekter“ Mann sein zu können. Über Kierkegaard kann man nachlesen, dass er depressiv war und über die Trennung hinaus auch nicht mehr glücklich wurde. Aber immerhin zeigte er Demut vor der Liebe und fühlte sich nicht von der Schlichtheit eines Liebeslebens, das sich über Likes und Matches definiert, gedemütigt.