Die französische Psychoanalyse, insbesondere jene, die in der Tradition von Jacques Lacan steht, bietet einen pointierten theoretischen Rahmen, um literarische Figuren und ihre inneren Konflikte zu analysieren. Robert Musils Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ eröffnet in dieser Hinsicht ein spannendes Feld zur Untersuchung, insbesondere wenn wir uns auf die Themen des Subjekts, des Begehrens und der Identität konzentrieren. Ulrich, der Protagonist, verkörpert in vielerlei Hinsicht das spätmoderne Subjekt, wie es Lacan beschrieben hat: ein Subjekt, das durch das Begehren und den Mangel strukturiert ist. Dies bedeutet, dass es keine stabile oder vollständige Identität gibt, weil das Begehren immer auf etwas verweist, das fehlt – eine Leerstelle, die das Subjekt niemals vollständig füllen kann.
Bei Ulrich wird dieser Mangel besonders deutlich. Er verweigert sich den traditionellen Strukturen und Identitäten, die in der symbolischen Ordnung – also der durch Sprache und gesellschaftliche Normen geformten Welt – verankert sind. Er lehnt es ab, sich auf vorgegebene Rollen auf Beruf, Ehe oder familiäre Pflichten festzulegen. Damit könnte man Ulrich als eine Verkörperung dessen ansehen, was man frei nach Lacan das „subjektlose Subjekt“ nennen könnte: ein Mensch, der in einer endlosen Suche nach einem Objekt des Begehrens gefangen ist, ohne es jemals zu erreichen. Das „Objekt klein a“, ein zentrales Konzept in Lacans Theorie, beschreibt genau dieses unerreichbare Objekt des Begehrens. Es steht immer außerhalb des Subjekts, das es zwar anstrebt, aber nie vollständig erlangen kann. Ulrichs Streben nach einem „neuen Zustand“, der über die bestehenden gesellschaftlichen Normen hinausgeht, spiegelt diese Dynamik wider. Er sucht nach etwas, das er nicht klar benennen kann und das letztlich unerreichbar bleibt.
Diese Weigerung, sich auf eine Identität festzulegen, lässt sich auch in der Rolle des „Name-des-Vaters“ verstehen, den Lacan als den Repräsentanten der symbolischen Ordnung beschreibt. Dieser Name steht für die Gesetze und Normen, die das Begehren und die Position des Subjekts regulieren. Ulrich stellt diese Ordnung infrage, indem er die traditionellen Autoritäten ablehnt. Er will weder in die Ehe noch in die nationalen Identitäten hineingepresst werden, was Lacans Vorstellung einer Krise in der symbolischen Ordnung nahekommt. Die Welt, in der Ulrich lebt, ist eine, in der die alten Werte und Strukturen zerfallen, etwa die alte österreichisch-ungarische Monarchie, die in Musils Roman eine zentrale Rolle spielt. Der Zerfall dieser Ordnung könnte als Symbol für den Zerfall des „Name-des-Vaters“ gesehen werden. Ohne diese strukturierende Instanz bleibt das Subjekt – in diesem Fall Ulrich – in einem Zustand der Offenheit zurück, aber auch in einer Leere, die keine klaren Anhaltspunkte mehr bietet.
Diese Leere manifestiert sich in Ulrichs Weigerung, eine feste Identität anzunehmen. In Lacans Theorie des Signifikanten sucht das Subjekt stets nach einem letzten Signifikanten, der ihm eine stabile Position innerhalb der symbolischen Ordnung verleiht. Doch Ulrich bleibt immer außerhalb dieser Struktur. Er ist der „Mann ohne Eigenschaften“, weil er sich weigert, sich durch die Sprache und die Normen der symbolischen Ordnung festlegen zu lassen. Dies zeigt sich besonders in seinen Beziehungen zu anderen Menschen, aber auch in seiner intellektuellen Haltung, die von ständiger Reflexion und Skepsis geprägt ist.Lacans Drei-Register-Modell, in dem das Imaginäre, das Symbolische und das Reale unterschieden werden, bietet einen weiteren Schlüssel, um Ulrichs Welt zu verstehen. Im Imaginären, das sich durch emotionale, bildhafte und oft verwirrende Beziehungen auszeichnet, lässt sich Ulrichs Verhältnis zu seiner Schwester Agathe einordnen. Diese Beziehung könnte als eine Rückkehr zum Imaginären verstanden werden, zu einem Raum, in dem die Grenze zwischen Ich und Anderem unscharf wird. Diese Nähe zur Inzest-Thematik deutet auf eine Welt jenseits der symbolischen Ordnung hin, in der die Gesetze des Begehrens nicht klar formuliert sind. Gleichzeitig ist die symbolische Ordnung, wie sie in Musils Roman dargestellt wird, bereits brüchig. Ulrichs Skepsis gegenüber Institutionen wie der Ehe oder der Politik spiegelt diese Krise wider, in der das Subjekt keine stabile Position mehr einnehmen kann. Und schließlich scheitern Ulrichs intellektuelle Bemühungen, die Welt zu verstehen, immer wieder an der Unmöglichkeit, die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zu erfassen – dies ist ein direkter Hinweis auf das Reale, das sich der symbolischen Ordnung, dem Verstehen und der Sprache entzieht, ein Hinweis auf das Unfassbare und Unaussprechliche.
Seine Weigerung, sich auf eine eindeutige Identität oder einen bestimmten Lebensweg festzulegen, spiegelt die Unsicherheit wider, die für das Subjekt der Spätmoderne charakteristisch ist.
In gewisser Weise kann man Ulrich in einer Weiterentwicklung der Lacanschen Terminologie als einen „Nomaden des Begehrens“ begreifen. Er weigert sich, sich auf eine feste Identität oder eine bestimmte Richtung festzulegen. Stattdessen ist er ständig auf der Suche nach neuen Wegen, die Welt zu denken und zu erleben, ohne jedoch jemals eine endgültige Erfüllung zu finden. Er verweigert jede klare Verankerung in der symbolischen Ordnung, die Lacan als das Netz gesellschaftlicher Normen und Gesetze beschreibt, das unser Begehren reguliert.
Während die meisten Menschen nach einer eindeutigen Identität streben oder einen sie fixierenden Lebensweg wählen, der ihre Identität fixiert, um innerhalb der symbolischen Ordnung zu Stabilität zu gelangen, bleibt Ulrich in einem Zustand der permanenten Möglichkeit und Offenheit. Diese Offenheit ist jedoch nicht ohne Kosten. Ulrichs intellektuelle und existenzielle Unentschiedenheit führt zu einer weitgehenden Isolation und einem Gefühl der Leere, da er keine eindeutige Position in der symbolischen Ordnung einnimmt. Sein Begehren ist unfassbar, immer auf etwas gerichtet, das außerhalb seiner Reichweite liegt. Diese Weigerung, sich in der symbolischen Ordnung zu fixieren, macht ihn zu einem exemplarischen Subjekt der Spätmoderne.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Lacans Theorie einen einzigartigen Zugang bietet, um die Figur des Ulrich in „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu verstehen. Ulrich ist ein Subjekt, das sich in einem Spannungsfeld zwischen Begehren, symbolischer Ordnung und Mangel bewegt. Seine Weigerung, sich auf eine eindeutige Identität oder einen bestimmten Lebensweg festzulegen, spiegelt die Unsicherheit wider, die für das Subjekt der Spätmoderne charakteristisch ist. Ulrich ist ein Mensch, der in der Krise der symbolischen Ordnung lebt, dessen Begehren sich jedoch niemals vollständig erfüllt. In dieser Hinsicht ist er nicht nur ein „Mann ohne Eigenschaften“, sondern auch ein Subjekt, das nie zu einer endgültigen Identität oder einem erfüllten Begehren findet – es ist eine Tragödie, die sich im Schwebezustand seiner Existenz ausdrückt.
Auf den Punkt gebracht, kann man also sagen, dass der „Mann ohne Eigenschaften“ ein Sinnbild für die Zerrissenheit resp. Entfremdung des spätmodernen Menschen darstellt, dessen intellektuelle Fähigkeiten im Gegensatz zu seiner Unfähigkeit stehen, sich auf eine bestimmte Lebensrichtung oder Identität festzulegen.
Die Philosophin Rahel Jaeggi interpretiert den Begriff der Entfremdung neu. Sie beschreibt ihn als „Unverbundensein im Verbundensein“ – kurz: Etwas, was zusammengehört, ist voneinander entfernt. Entfremdung ist nicht als Abweichung von einer Wahrheit definiert, sondern meint in diesem Sinne eine gestörte Beziehung – sowohl zu sich selbst als auch zu anderen. Nach Jaeggi handelt ein entfremdeter Mensch nicht als Subjekt, sondern lässt sich passiv von den Überzeugungen anderer leiten. Wäre Entfremdung eine Eigenschaft, könnte diese Musils Protagonisten dieser zugeschrieben werden.Der Entfremdete ist ein halbunglücklicher Mensch, der auf der Suche nach Erfüllung ist, indem er den wahren Grund seines Unglücks – die Unverbundenheit – als blinden Fleck mit sich durch die Weltgeschichte schleppt und an der Vielzahl offener Möglichkeiten scheitert. Die unendliche Wahlmöglichkeit führt den Menschen zugleich in die Überforderung. Unverbundenheit übersetzt sich auch in Strukturlosigkeit und diese ist als psychologisch relevant zu betrachten, sobald sich über die Strukturlosigkeit Leid etabliert.
Georg Simmels Bild vom Wandernden „der heute kommt und morgen bleibt“ ist eine Metapher für das Dazwischensein. Der Wandernde entzieht sich exakten (sozialen) Zuschreibungen und existiert eher als ein Wechselwirkungsfeld, anstatt seinen eigenen Zielen folgen zu können. Die Dichotomie zwischen Anpassungsfähigkeit an das notwendige Außen und Isolation ist nicht starr, sondern in Prozessen veränderbar. Der Mann ohne Eigenschaften muss also nicht ohne Eigenschaften bleiben.
Auf den ersten Blick erscheint dieser existenzielle Schwebezustand als die Kunst, sich nicht festzulegen und ist so eben auch ein dankbarer Stoff für einen Jahrhundertroman. Im Grunde genommen beschreibt der Roman jedoch die Tragik der Freiheit. Das Glück, das Menschen hingegen ausstrahlen, die Verantwortung für sich übernommen haben, liegt in der Entscheidung für ihr Sein und in den damit möglichen Wachstumsprozessen in ihrem Leben – für die es niemals zu spät ist.