Psychologie Kulturkritik

Emotionale Granularität als Superkraft der Psyche

26 Februar 2025

Markus Thiele

Emotionale Granularität als Superkraft der Psyche

Schadenfreude, Fernweh, Fremdscham, Torschlusspanik – wahrscheinlich hat jeder diese Gefühle bereits empfunden. Wenigstens diejenigen, denen diese Begriffe bekannt sind, denn all diese Gefühle sind zwar universell, jedoch gibt es nicht in jeder Sprache Begriffe um diese genau auszudrücken.

Wittgensteins Ausspruch: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ ist längst zum geflügelten Wort geworden. Hinsichtlich von Gefühlen ist man jedoch mit dem Gegenteil besser beraten. 

Emotionale Konzepte werden zunehmend zu identitätsstiftenden Merkmalen: Du bist, was du fühlst – oder: Ich fühle, also bin ich. Dass Identität sich über eine emotionale Landkarte zusammensetzt, ist nicht neu. Dass das Wie ich fühle jedoch zum Trend wird, schon. Der klickstarke Podcast von Jule und Sascha Lobo bringt es in seinem Titel auf den Punkt: Feel The News. Beim Spiegelkolumnisten und der Influencerin geht es dabei nicht um Fake-Fakten oder gefühlte Wahrheiten. Die Frage ist eher: Wie fühlt sich der Fakt an, dass Russland und die Ukraine Krieg führen. Mögliche Antwort: Das hat mich ganz schön erschüttert.

Die Bereitschaft, seine emotionale „Wasserschänke“ in der Öffentlichkeit zu vergießen, ist zunehmend zu einem erfolgreichen gesellschaftlichen Konzept geworden.

Heißt das dann auch: Je differenzierter der Ausdruck von Gefühlen, umso vielschichtiger ist die Persönlichkeit? Wer seine emotionalen Zustände in Worte fassen kann, hat das hochgelobte Konzept der Transparenz auf seiner Seite. Die vermeintlich lästige Aura der Befindlichkeiten wurde umkodiert zu einer Grundannahme für stabile zwischenmenschliche Beziehungen: Jeder und jede kann und muss über seine Gefühle im Austausch stehen. Allerdings ist damit nicht gemeint, nur die Skala von „Mir geht’s gut“ bis „Mir geht’s schlecht“ bedienen zu können.

Gefühle sind nicht zuletzt das Ergebnis der Verarbeitung von Reizen. Der sogenannte „Attentional Blink-Effekt“ (das kurze Blinzeln der Aufmerksamkeit) zeigt, dass unsere Wahrnehmung begrenzt ist und nach dem Erfassen eines ersten Reizes eine kurze Zeitspanne benötigt, um sich auf einen weiteren Reiz zu konzentrieren. Die Verarbeitung von Reizen ist also immer auch eine Frage der individuellen Wahrnehmung.

Die Amygdala, benannt nach ihrer mandelförmigen Gestalt, ist maßgeblich daran beteiligt wie emotionale Bedeutungen bei der Verarbeitung von Reizen entstehen. Je nach Reiz sind Empfindungen stark und werden schnell hervorgerufen oder treten nur subtil im Hintergrund auf.

Sie beschreibt das rational nachvollziehbare Erlebnis etwa das Gefühl, eine leere Chipstüte zu greifen, als Blockbuster der Gefühle: Schuld, Enttäuschung, Vergänglichkeit und Erleichterung kommen dabei in einem Moment zusammen.

Richard Wollheim führt aus, dass unsere emotionalen Reaktionen von unserer Haltung oder Einstellung zur Welt abhängen – sie sind Ausdruck mentaler Dispositionen, die Orientierung und Motivation stiften. „Einigen könnte ich dogmatisch erscheinen, weil ich eigentlich eine Verbindung zwischen Emotionen und Rationalität ablehne“, zitiert ihn der Deutschlandfunk.

Die US-Psychologin Lisa Feldman Barrett hingegen beleuchtet die emotionale Vielfalt und deren feine Abstufungen. Sie beschreibt das rational nachvollziehbare Erlebnis etwa das Gefühl, eine leere Chipstüte zu greifen, als Blockbuster der Gefühle: Schuld, Enttäuschung, Vergänglichkeit und Erleichterung kommen dabei in einem Moment zusammen. Barrett nennt dies Granularität von Gefühlen und führt aus, dass Gefühle in all ihren feinen Nuancen verstanden und benannt werden müssen – „ähnlich wie eine versierte Innenarchitektin, die nicht einfach von Blau spricht, sondern abgrenzt zwischen Azur, Kobalt, Ultramarin, Königsblau und Cyan“, heißt es in „Die Zeit“ vom 16.09.24. Aber es geht nicht nur darum, die Gefühlszustände zu benennen zu können, sondern sie auch zu empfinden. „Manche Leute verwenden selbst basale Emotionskonzepte wie traurig, wütend oder ängstlich nahezu synonym, um zu sagen ‚Mir geht’s mies.` Andere dagegen unterscheiden exakt: Bin ich wütend oder nur gereizt? Frustriert, verletzt oder gar verbittert? Fühle ich mich verlegen oder beschämt.“ (Claudia Wüstenhagen in „Die Zeit“ vom 16.09.24)

Die präzise Benennung und Unterscheidung von Gefühlen ermöglicht nicht nur einen besseren Umgang damit, sondern erhöht auch die emotionale Belastbarkeit. Sie wirkt wie ein Puffer, der negative Erfahrungen relativiert und ist quasi eine Superkraft, die der psychischen Balancierung und somit der seelischen Gesundheit dient.



Emotionale Granularität ist zudem erlernbar. Psychotherapeutische Maßnahmen können dabei helfen, emotionale Empathiefähigkeiten zu entwickeln, indem sie Individuen befähigen, ihre eigene Gefühlslandschaft klarer zu erfassen und somit auch andere besser zu verstehen. Doch Granularität bedeutet nicht, eine endlose Anzahl an Wörtern für Emotionen zu lernen oder gleichzeitig verschiedene Empfindungen zu erleben. Vielmehr steht der Begriff für Präzision.

Die Fähigkeit, emotionale Zustände präzise und klar zu benennen, ist eine Herausforderung – sowohl für das Selbst als auch für zwischenmenschliche Beziehungen. Aber sie eröffnet auch neue Möglichkeiten, Gefühle zu erfassen, zu verarbeiten und damit umzugehen. Es ist nicht nur ein Sprechen über Gefühle, sondern ein genaueres Verständnis ihrer Nuancen und Dynamiken, das den Weg zu echter Empathie und emotionaler Reflexion ebnet. Das Credo der Transparenz lautet also nicht, alles zu sagen, sondern präzise zu formulieren.