Psychologie Kulturkritik

Der Virus des Ausnahmezustandes

26 März 2020

Markus Thiele

Der Virus des Ausnahmezustandes

Angela Merkel hat in ihrer kürzlich gesendeten Fernsehansprache an den Verstand appelliert, indem sie eindringlich zu der Vermeidung sozialer Kontakte aufrief. Die Mutter erteilt Hausarrest. Und was macht üblicherweise dann das Kind? Aufbegehren oder verzweifelt rebellieren. Und wenn es der Erwachsene derzeit nicht tut, dann weil er seine sozialen Einschränkungen nicht als Strafe, sondern als „solidarischen Akt” verstehen soll, um die Verbreitung eines Virus zu verlangsamen. Aber wohin verschwindet der natürliche Impuls des Aufbegehrens unter dem Eindruck einer unsichtbaren Bedrohung?

Nimmt man die Maßnahmen so ernst, wie die virale Situation zu sein scheint, erfährt man, was es heißt, dem Paradox ausgesetzt zu sein, das nun gelten soll, Solidarität im Alleinsein und Alleinlassen auszuüben. Es gilt auf einmal, den älteren Menschen nicht mehr über die Straße zu helfen, seine Großeltern nicht mehr zu besuchen. Freunde nicht mehr zu treffen. Den Beruf von zu Hause aus auszuüben, solange dieser nicht als „systemrelevant“ gilt. Es soll nun gelten, auf den eigenen Selbstwert ohne Referenz auf andere als stabil zu vertrauen. In einem nie dagewesenen radikalen Tempo wird die Welt auf einen shut down zurückgefahren und wir sollen alle mitmachen, um Leben zu retten, heißt es, da den schwer Erkrankten nur dann geholfen werden könne, wenn das Gesundheitssystem nicht kollabieren würde.

So viel zu unserer Funktion als mögliche Träger und Überträger von Covid-19. Über die physische Funktionen hinaus, auf die wir im Ausnahmezustand reduziert werden sollen, bleibt der Mensch ein psychisches Wesen und ein „Zoon politikon“, das aufbegehren kann. Der sogenannte Ausnahmezustand kann und muss eingedenk der psychischen Auswirkungen reflektiert werden, sonst verfallen wir in Agonie.

Alle bisher verhängten restriktiven Maßnahmen versetzen die Psyche in einen alarmierten Zustand. Der eine reagiert mit plötzlichem Einfrieren seiner persönlichen Probleme, der andere ist bereit, sich seiner Verzweiflung darüber hinzugeben.

Auch stellt sich die Frage, was wir mit einer völlig „ausgeschlafenen“ Gesellschaft anfangen. Vielmehr gilt es zu bedenken, was für Ventile sich die derzeitige psychische Belastung einer geschlossenen Gesellschaft sucht. Alle bisher verhängten restriktiven Maßnahmen versetzen die Psyche in einen alarmierten Zustand. Der eine reagiert mit plötzlichem Einfrieren seiner persönlichen Probleme, der andere ist bereit, sich seiner Verzweiflung darüber hinzugeben, sein komplettes System, dass er vorher „eigenes Leben“ nannte, umstellen zu müssen. „Beziehungen werden suspekt“, sagt Hartmut Rosa, der andere zur potentiell lebensgefährdenden Bedrohung, weil möglicherweise Träger eines „bösen“ Virus.

Was für den einen in die Depression führt, kann den anderen erst einmal von quälenden intrapsychischen Spannungen befreien. Jemand, der soziale Kontakte als Kompensation seines Selbstwerts braucht, durchlebt nun andere Gefühle als derjenige, der soziale Kontakte als eine Last empfindet. Was die Pandemie sicherlich befördert, sind die Ausweichmöglichkeiten: Der familiäre Konflikt wird in Anbetracht der Besinnung auf die Kernfamilie vertagt. Die Auseinandersetzung mit dem Partner wird von den alarmierenden Entwicklungen zunächst verschüttet. Kurzum: Die Freiheit der Individualität wird mehr und mehr auf ihr Minimum eingeschränkt. Die individuelle Freiheit ist aber auch die Voraussetzung dafür, die eigenen psychischen Zustände reflektieren zu können.

Die Unsicherheit des derzeitigen Zustands führt dazu, dass die Zukunft, die ein Antidot gegen depressive Einbrüche ist, auf die Agonie des Ausnahmezustandes reduziert wird. Und dies führt zu einer Überforderung des psychischen Apparats, da der lähmende Zustand der Ausnahme nun die Normalität ist und Ängste, Depressionen, Traurigkeit und Widerstände nicht nur freilegen, sondern verstärken wird. Und die nun aufkommenden negativen Gefühle werden zu einem Ansturm von Schuldzuweisungen gegen diejenigen führen, die die Regeln nicht einhalten. Es geht aber nicht um individuelle Schuld, sondern um die Zumutung der aktuellen Ausnahmesituation für unsere Psyche, wenn sich das „soziokulturelle Leben gerade in ein physisch entschleunigtes ‚realweltliches‘ und ein hyperventilierendes digitales Leben“ spaltet, wie Hartmut Rosa es kommentiert.

Und seltener war der Satz von Hölderlin, der die letzten 36 Jahre seines Lebens isoliert in einem Turm lebte, zeitgemäßer als heute: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“