Psychologie Kulturkritik

Die Sehnsucht nach einem Endlager für das Leiden

26 Januar 2023

Markus Thiele

Die Sehnsucht nach einem Endlager für das Leiden

Es ist, als würden wir seit 2020 geistiges Krisen-Roulette spielen: Die Kugel dreht ihre Runden, verliert dann an Fahrt und kann letztlich nicht anders, als auf einem Krisenschauplatz zu landen. Mit den Corona-Maßnahmen wurde deutlich, dass das nicht der Beginn einer beizeiten endenden Phase war, sondern ein drastisch wahrnehmbarer Wendepunkt der Leidensfähigkeit der Menschen. Krisen waren zuvor in ihrer weltweiten Komplexität nie so deutlich wie seit dieser unmittelbar einschneidenden Erfahrung. 

Jetzt werden die tatsächlichen wie nicht zuletzt die vorgestellten Katastrophen zum neuen Normalzustand wie insbesondere bei den Ängsten wegen der Folgen des Klimawandels. Wahrscheinlich sind die ausufernden Befürchtungen momentan die eigentliche Ursache für die großen Krisen. Krisen produzieren Leid und Leid schafft Krisenzustände: Ist das Dilemma einmal kreiert, gibt es keine einfachen Lösungen mehr.

Leid ist nicht nur anwesend, wo die Welt grausam ist. Leid ist da zu Hause, wo Menschen zusammen sind. Doch wohin mit all dem Leid, solange die Menschen da sind? Dass sich „das leidendste Tier“ (sic, der Mensch) das Lachen erfand, umschreibt Nietzsches Verständnis von Leiden als aktivierend und motivierend. Leid steht hier nicht im Verhältnis zum Lachen, sondern vielmehr zum Erfinden. 

Im Gegensatz dazu steht das passive Leid, das Erdulden ungewollter Umstände. Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung empfunden als Konterpart zum Leid, verändert die Einordnung des leidvollen Empfindens. Leid ist unterschiedlich erfahrbar: Als negatives Gefühl hervorgerufen z. B. durch Schmerz, als depressive Verstimmungen, als Notleiden, als Krankheiten durchleiden, als erlittener Verlust. „Wie soll Leid absolut bestimmt werden können, wenn das Erleiden von Mensch zu Mensch unterschiedlich oder gar nicht leidensvoll erlebt wird, soweit Leiden eben nicht prinzipiell aus den Gegenständen seiner Anlässe ableitbar ist”, fragt Helge E. Baas in seinem Buch “Der elende Mensch”.

Nicht am Leid zu zerbrechen, ist eine Entscheidung. Der Schritt in die therapeutische Auseinandersetzung zählt bereits dazu, sich aus seiner leidvollen Selbstabhängigkeit zu lösen.


Sich als eingreifendes Subjekt zu verstehen, basiert auf einem Selbstverständnis, Situationen aus eigener Kraft heraus meistern zu können. Diese Form der Unabhängigkeit ist auch Emanzipation von der permanenten Möglichkeit des passiven Leids, denn es bleibt dabei: Wo Menschen sind, da ist Leid. 

Therapeutische Prozesse werden häufig davon begleitet, dass sich der Patient im Leid regelrecht beheimatet fühlt. Das Erleiden birgt in seiner Passivität auch Erleichterung in sich: Die Umstände, die als Auslöser für das Leid beschrieben werden, sind häufig wiederkehrend und in ihrer ständigen Wiederholung ein weiterer Aspekt des empfundenen Leids. 

Nicht am Leid zu zerbrechen, ist eine Entscheidung. Der Schritt in die therapeutische Auseinandersetzung zählt bereits dazu, sich aus seiner leidvollen Selbstabhängigkeit zu lösen. „Verwundbar das Ich, verwoben, unverhohlen. Verwundet und geschunden, unumwunden. Vom Über-Ich an den nächsten Pfahl gebunden“, singen die „Goldenen Zitronen“. So poetisch kann nicht jede Beschreibung eines negativen Gefühls sein. Jedoch gilt im Kern, dass das sogenannte affect labeling (“Gefühle-in-Worte-Fassen”) die Leiderfahrung als Auswirkung auf das Selbst fassbar machen kann, was der Erfahrung nach auch beruhigend wirkt. Auswirkungen davon sind – im Gegensatz zum Credo „Die Welt ist schlecht“ – fassbare und veränderbare Phänomene.

Oder man erfindet das Lachen. Was Nietzsche in seinem Satz „Das leidendste Tier auf Erden erfand sich das Lachen“ nebenbei auch anregt, ist die Frage danach, wie viele Tiere eigentlich lachen können. Eine Studie aus 2021 behauptet, 65 Tierarten können lachen. Insgesamt sind derzeit etwa 7,8 Millionen gezählt. Wenn es schon kein Endlager für das Leid gibt, das in der Welt steckt, gilt immerhin: Dort wo es Tiere gibt, ist definitiv weniger Leid als unter den Menschen.