Psychologie Kulturkritik

Die Zone oder die Landschaft der Seele

26 Mai 2022

Markus Thiele

Die Zone oder die Landschaft der Seele

„Bitteres Glück ist besser als ein graues, fades Leben“, heißt es in Andrei Tarkowskis Film „Stalker”. Das Glück, zu dem der Stalker (hier: Pfadfinder, Ortskundiger) zwei Männern – einem Schriftsteller und einem Wissenschaftler – verhelfen möchte, wird hier verstanden als die Erfüllung unserer tiefsten Wünsche. Der Weg zur Erfüllung führt durch „das Wunder aller Wunder – die ZONE“. Die Zone verbreitet allerdings zunächst nicht den Eindruck, dass hier Wunder geschehen, vielmehr dass der Mensch ein wunderliches Wesen ist.

„Die Zone ist, wie wir sie mit unserem Geist gestalten.“ Ein Ort, der erst einmal Tristesse und Unbehaglichkeit ausstrahlt. Überwuchert, untertunnelt, feucht. Ein Ort, der von der Natur zurückerobert wurde. In Farbe. Der Rest der filmischen Umgebung ist in Sepia gehalten.

Eine Eisenbahn-Draisine fährt die drei, den Stalker und seine Mitreisenden, vom Sperrbezirk ins innere Zonengebiet. Von dort gehen sie zu Fuß weiter zum verheißungsvollen Zimmer, in dem sich die tiefsten Wünsche des Menschen erfüllen sollen. Die Motive sind verschieden. Der Stalker davon getrieben, anderen diesen Raum zugänglich zu machen, der Wissenschaftler mit der Mission, diesen Ort zu zerstören und der Schriftsteller mit dem Wunsch, seine Inspiration wieder zu finden. Die Zone erinnert dabei an eine radioaktiv aufgeladene Sperrzone, ein Ort unsichtbarer Gefahr für den Menschen. Und Stalkers Tochter scheint davon bereits körperlich gezeichnet.

Die Filmwissenschaftlerin Maja Turowskaja hat die Zone als „Landschaft der Seele“ beschrieben, die Reise wird als Reise zu sich selbst interpretiert. Die Landschaft der Seele umzäunt von Stacheldraht – keine nebensächliche Metapher. Die Interpretation der Zone als Landschaft der Seele bedeutet, dass der Weg zu sich selbst und zu den tiefsten Wünschen bedrohlich ist. Die Introspektion gleicht in diesem Bild einer verheißungsvollen Gefahrenzone. Diese Bedrohlichkeit zeigt sich im Leben besonders in Vermeidungsstrategien und Abwehrmechanismen, die im psychotherapeutischen Raum auf das verdrängte Thema verweisen. Die Verheißung spiegelt sich darin, dass am Ende die Hoffnung auf die Erfüllung der tiefsten Wünsche steht. Doch: „Woher weiß ich, was ich will?“ fragt der Stalker.

Wünsche streben nach Veränderung des bestehenden Zustands. Jedoch stehen Wünsche häufig an der Schwelle zur Illusion und können mit dieser verwechselt werden. Wünsche verändern die Wahrnehmung, wohingegen die Illusion die Wirklichkeit verzerrt wahrnehmen lässt. Illusionen von einem glücklichen Leben können in eine Depression führen, d. h. hinein in eine Täuschung, die das Moment der Enttäuschung in der Wiederholung reaktualisiert. Wohingegen erfüllte Wünsche nach einem guten Leben die Enttäuschung überwinden können. Wünsche können erfüllt werden, Illusionen müssen aufgegeben werden. Das Verharren in Illusionen gleicht dabei dem Stillstand einer Depression.

Wünsche können erfüllt werden, Illusionen müssen aufgegeben werden. Das Verharren in Illusionen gleicht dabei dem Stillstand einer Depression.

Die Frage, woher wir wissen, was wir wollen, beantwortet der Film, indem er die drei Männer nie im Zimmer ankommen lässt, was zur Erfüllung ihres tiefsten Wunsches verholfen hätte. Der filmische Blickwinkel scheint aus dem Raum heraus, sodass der Zuschauende sich perspektivisch im Raum befindet, während die drei Reisenden davor die conditio humana diskutieren. Woher wir wissen, was wir wollen, erfahren wir auf dem Weg, nicht in der Erfüllung.

Der Film behandelt das Thema der Möglichkeit und Unmöglichkeit unserer Wahrnehmung, der Wunsch und Illusion immanent sind, indem die Zone immer wieder mit Ereignissen aufwartet, die einer Täuschung gleichen. Ein klingelndes Telefon in einem Raum ohne Elektrizität oder eine Stimme aus dem Off, die den direkten Weg in das Zimmer verwehrt.

Auf der Reise der drei, bildet der Stalker die Triangel zum Wunsch-Illusion-Verhältnis, indem er die Hoffnung repräsentiert: Er hat als einziger den Glauben nicht verloren und will Menschen zu ihrem Glück verhelfen. „Er steht für Religion und Natur, während die beiden anderen Kultur bzw. Aufklärung und Vernunft repräsentieren. So ähnelt der Stalker einem modernen Sisyphos, der sich immer wieder auf den Weg begibt, der seine innere Freiheit bewahrt hat und deswegen unbesiegbar ist“, schreibt Ulrich Behrens in seiner Filmkritik. Der Stalker wandelt hoffnungsvoll im Glauben durch eine postapokalyptische Welt. Eine Anspielung auf Paulus, den Tarkowski selbst interpretiert, indem er sagt: „Wir schauen nur, aber wir sehen nichts.“

Zum Ende des Films bekommt die Zone als Ort der Bedrohung eine Wendung. Der Stalker überlegt, mit seiner Familie dort hinzuziehen. Die Zone ist nun nicht mehr Ort der Bedrohung, sondern Ort des Schutzes. Auszuloten wieviel Schutz wir überhaupt brauchen, ist ein entscheidendes Moment des psychoanalytischen Weges und stärkt letztlich die Fähigkeit unser Leben gestalten zu können.

„Mir ist es wichtig, in diesem Film das spezifisch Menschliche, Unauflösliche, Unersetzliche festzumachen, das sich in der Seele jedes Menschen offenbart und seinen Wert ausmacht.“, sagt Tarkowski selbst über seinen Film. In der letzten Szene wird Stalkers Kind allein außerhalb der Zone in der Küche sitzen und mit bloßer Konzentration Gläser verrücken können. Die Zone hat sich ausgeweitet bzw. war in Wirklichkeit niemals ein zu verschließender Ort. Genauso wie Strahlung nur zu meiden, aber nicht zu umzäunen ist. Auf jeden Fall ist die Wahrnehmung einer Illusion die entscheidende Desillusionierung: Die beste Illusion ist somit die Desillusion.