Psychologie Kulturkritik

Hikiomori oder der selbstverordnete Lockdown

26 September 2020

Markus Thiele

Hikiomori oder der selbstverordnete Lockdown

Der Filmemacher und Philosoph Alexander Kluge fragt in einem Interview mit dem Film- und Theaterregisseur Christoph Schlingensief: „Die Zerrissenheit ist der Gegenpol des Glücks. Also wenn die beiden Seelen sich gegenseitig bewettern und zerfetzen, ist das ein sehr starkes Unglück. Was macht man dann?“ Und Schlingensief antwortet: „Man entzieht sich, fürchte ich.“

Es gibt Menschen, die aus dem sogenannten Corona-Lockdown nicht zurückkehren werden, weil sie grundsätzlich dem sozialen Gefüge entzogen leben. Zwischenmenschliche Kontakte zu meiden ist nicht für alle gleichbedeutend damit, seinen Alltag erst in tägliche Alleinseins-Zustände umwandeln zu müssen. Vielmehr gibt es Menschen, die in ihrer Zurückgezogenheit und Unauffälligkeit nicht mehr auffallen, sobald auch der Rest der Gesellschaft zu Hause bleibt.

In Japan werden Menschen, die in einem auffälligen Maße sozial isoliert leben, als „Hikikomori“ bezeichnet. Als solch jemand gilt, wer mindestens sechs Monate lang nicht zur Schule oder zur Arbeit geht und keinen Kontakt mit Menschen außerhalb der Familie hat. Regierungsschätzungen behaupten, dass diese Schilderung auf etwa 613.000 Japaner:innen zwischen 40 und 64 Jahren zutrifft, wovon fast drei Viertel Männer sind. Geschätzt liegen bei 1% dieser Gesamtpopulation die Kriterien für eine schizoide Persönlichkeitsstörung vor.

Anfang der 20er Jahre prägten Eugen Bleuler und Ernst Kretschmer den Terminus als einen der Schizophrenie verwandten Begriff (schizoid: griechisch: schizein = spalten; -id = ähnlich). Schizoide Persönlichkeiten sind jedoch nicht im Sinne der Schizophrenie gespaltene Persönlichkeiten, sondern von ihren Gefühlen abgespalten. Ihr Gefühlsausdruck ist nicht nur beschränkt, sondern auch das Erleben von Gefühlen ist in seiner Intensität stark reduziert.

Schizoide Persönlichkeiten leben also nicht als Folge der Zerrissenheit zweier Seelen, wie man sie auch in Goethes Faust zitiert findet, der Welt entzogen, sondern weil innere Zerrissenheit für sie nicht fühlbar und somit keine Überleitung hin zur Lebendigkeit ist. Positiv ausgedrückt handelt es sich hierbei gewissermaßen um eine leblose Autonomie. Dies führt dazu, dass oft gar kein Interesse an Kontakten zu anderen Menschen besteht. Kommt es zu sozialen Kontakten, wirken die unter dieser Störung Leidenden oft hölzern ob ihrer Uneingeübtheit in zwischenmenschlichen Gepflogenheiten.

Schizoide Persönlichkeiten sind im Grunde nicht in der Beziehung zu anderen gestört, sie haben diese häufig auf ein Minimum reduziert und bedienen meist nur Bereiche, die keine Empathie erfordern.

Schizoide Persönlichkeiten haben die Vorstellung, dass sich Beziehungen nicht lohnen. Im Gegensatz zur depressiven Störung besteht deshalb auch seltener ein Anlass in eine therapeutische Beziehung einzutreten. Denn weder diese noch die prozessuale Einübung in gute Beziehungen stellen für die schizoide Persönlichkeit eine Motivation dar.

Das Krankheitsbild einer schizoiden Persönlichkeit ähnelt dem eines depressiven Patienten zwar darin, dass auch die Depression zum Rückzug aus dem sozialen Umfeld führen kann, jedoch ist die Dumpfheit der Depression eher eine Migräne der Seele, wohingegen die schizoide Persönlichkeit nicht an der Intensität des Schmerzes abstumpft, sondern diese Intensität gar nicht erst wahrnimmt.

Schizoide Persönlichkeiten sind im Grunde nicht in der Beziehung zu anderen gestört, sie haben diese häufig auf ein Minimum reduziert und bedienen meist nur Bereiche, die keine Empathie erfordern. Sie pflegen eher ein gestörtes Alleinsein, das als Verneinung der äußeren Welt verstanden werden kann: Eine spezielle Charakterbildung mit Abwehrfunktion.

Die Lücke zwischen der eigenen Abwehr und dem fremden Objekt ist die Phantasie, die ein Leben, geprägt vom Alleinsein, definiert. Die Dynamik zwischen Phantasie und Realität fällt dem Rückzug aus der Öffentlichkeit deshalb in den Schoß, weil die Welt der eigenen Phantasie zwar nicht immer positiv, aber kontrollierter zu verarbeiten ist als in zwischenmenschlichen Dynamiken.

Für Psychotherapeuten stehen vor allem psychodynamische Prozesse im Fokus der Annäherung an das Störungsbild. Schon im frühkindlichen Stadium können Störungen der Affektregulation eingetreten sein bis hin zur Leugnung eigener Bedürftigkeit im Nähe-Distanz-Spannungsfeld. Nicht selten wird an diese Stelle die Sicherheit des Intellektualisierens und abstrakten Denkens gesetzt, gepaart mit einer eigentümlichen Unberührtheit in emotionalen Angelegenheiten.

Gerade in diese Sicherheit hinein könnte Kluge mit seiner Feststellung: „Ich glaube, dass wir abweichen müssen von dem Wort ‚glücklich‘, das viel zu allgemein und abstrakt ist. Wie wäre es mit ‚lebendig‘?“… wenigstens ein kleines Echo erzeugen.