Psychologie Kulturkritik

Deprivation oder der Auszug aus dem Paradies

26 Mai 2021

Markus Thiele

Deprivation oder der Auszug aus dem Paradies

Erkenntnis soll – laut Volksmund – der erste Weg zur Besserung sein. Einsicht steht allerdings nicht automatisch für die Vereinfachung der Dinge. Sie kann vielmehr ambivalente Verhältnisse aufzeigen, so auch die Einsicht über die Ambivalenz der eigenen Bedürfnisse. Überhaupt den Blick erst auf diese zu richten und im Weiteren sogar artikulieren zu können, ist gleichzeitig auch Erkenntnis ihrer Ambivalenz.

Zdeněk Matějček isoliert die Ambivalenz der psychischen Grundbedürfnisse, um die Grundtendenz des Menschen im Kontakt mit der ihn umgebenden Welt sichtbar zu machen: Das Bedürfnis nach Variabilität versus das Bedürfnis nach Stabilität und das Bedürfnis nach Abhängigkeit (Liebe und Beziehung) als Bindung zu nahe stehenden Menschen kontra das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und persönlichen Separation von der Umwelt zur Erreichung von Autonomie und Identität.

Der Begriff Deprivation beschreibt die ungenügende Befriedigung dieser Bedürfnisse als Entzug von etwas Erwünschtem. Im Kindesalter ist zunächst die Bedürfnislage nach Bindung und Nähe wegbereitend für das Beziehungsverhalten, später dann der „Hunger“ nach Autonomie.

In der Psychologie trifft man die Unterscheidung zwischen Mutter- und Vaterdeprivation. Lange Zeit wurde angenommen, dass im Speziellen die Nähe zur Mutter und der Entzug ihrer Zuwendung, Einfluss auf das sich entwickelnde Bindungsverhalten des Kindes habe. Dabei ist ihre Nähe und Zugewandtheit nicht nur in den ersten Lebensjahren entscheidend, sondern insbesondere auch später bei der Ausprägung des Entdeckungs- und Erkundungsdranges.

Eng verwandt damit ist der Begriff „Hospitalismus“. Dieser beschreibt den trostlosen Zustand von Kindern, denen die persönliche Zuwendung von Mutter und/oder Vater gefehlt hat.

Ohne die Bedeutung der mütterlichen Position schmälern zu wollen, wurde die Auffassung dahingehend später erweitert, dass der Vater als Teil dieses Umstrukturierungsprozesses enorm bedeutsam sei. Er spiele bei der Dreiecksbildung (Mutter, Vater & Kind) im Konflikt zwischen Bindungs- und Autonomiebestreben als triangulierender Anker eine bedeutende Rolle, um die so beim Kind ausgelöste Trennungsangst von der Mutter zu kompensieren.

Die Psychoanalyse beleuchtet mit dem Begriff der Deprivation insofern auch den Vaterverlust. Alexander Mitscherlich spricht in der Konsequenz dieses Verlustes von psychosomatischer Symptombildungen, Beziehungsstörungen und psychosexuellen Identitätsproblemen.

Eng verwandt damit ist der Begriff „Hospitalismus“. Dieser beschreibt den trostlosen Zustand von Kindern, denen die persönliche Zuwendung von Mutter und/oder Vater gefehlt hat. Dadurch, dass sie in Heimen gelebt oder längere Aufenthalte in Krankenhäusern erlebt haben. Dies führe zur „anaklitischen Depression, d. h. betroffene Kinder bleiben in fast allen Entwicklungsbereichen, vor allem aber in ihrer Intelligenzentwicklung, in ihrer sprachlichen Entwicklung und in der motorischen Entwicklung weit hinter ihren Möglichkeiten zurück.“ (W. Stangl)

Klinische Symptombildung bei Kindern sowie im Erwachsenenalter ist auch unter der Perspektive des Mangels an einem anwesenden Vater zu verstehen, dessen Anwesenheit und Positionierung erst das Aushalten der Gegensätze ermöglicht und somit zu einer eigenständigen Lebensgestaltung beitragen kann.

Deprivation entsteht also nicht nur aus dem unbefriedigten Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung, sondern zeigt auch die Schwierigkeit an, ambivalente Bedürfnisse überhaupt erst auszuhalten.