Psychologie Kulturkritik

You better do what they tell you

26 März 2021

Björn Käs

You better do what they tell you

Gesellschaftliche Enge war für die vergangenen Generationen in der “westlichen Welt“ das Joch, das es beständig zu bekämpfen und stückweise abzuschütteln galt. Auflehnung statt Anpassung war sozusagen die Triebfeder der westlichen Kulturentwicklung nach dem zweiten Weltkrieg. Ende der 90er kulminierte diese Überzeugung hymnenhaft in einem Song von der amerikanischen Crossover-Band Rage against the Machine (RATM): „Fuck you, I won’t do what you tell me!“

Doch die Zeiten sollten sich alsbald ändern. Je mehr bisherige gesellschaftliche Tabus in Frage gestellt, je mehr enge Grenzen und Definitionen aufgelöst wurden, je mehr neue Lebensstile möglich und ausgelebt wurden, desto größer wurde scheinbar der unbewusste Wunsch nach Orientierung und festen Regeln. Heute begegnet man häufig jungen Erwachsenen, deren Maxime eine Erwiderung auf den Song von RATM zu sein scheint: „Fuck you, you better do what they tell you.“ Die Zauberformel auf alle offenen und komplexen Fragen unserer Zeit heißt compliance. Und was sich zunächst wie die perfekte moderne Lösung auf all diese Fragen anhört, trägt letztlich eine altbekannte kulturelle Aufforderung der Gesellschaft an den Einzelnen in sich: Hörigkeit und Unterordnung an Zwänge und Normen.

Aus der Lebendigkeit der Auflehnung in den vergangenen Jahrzehnten ist heute eine Starre und gewisse Leblosigkeit der Anpassung geworden. Hildegard Adler sah die Hörigkeit als eine Perversion an. Sie sei durch eine starke Wahrnehmungseinengung sowie durch Sinn- und Symbolisierungsarmut beziehungsweise einen Konkretismus gekennzeichnet, der nur äußere Realitäten gelten lasse. Im Dienste der Abwehr von Trennungsängsten und gegen die Befürchtung auf andere Menschen angewiesen zu sein. Es scheint aktuell so zu sein, dass nach dem großflächigen Verschwinden der Verhaltensvorgaben von Traditionen und Religionen genau diese Ängste die Menschen wieder überfluten.

Freud blickte auf diese Thematik der Verhaltensvorgaben und compliance etwas abstrakter und behauptete in „Zukunft einer Illusion“ , dass letztlich jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht der Vielen beruhe. Eine Minderheit fordere diese gewöhnlich von einer Mehrheit ein. Dies löse unvermeidlich eine Opposition der Regierten gegenüber den Regierenden aus. Aber nicht nur das, denn dann wäre menschliches Zusammenleben immer nur von kurzer Dauer. Die Menschen identifizierten sich auch zur gleichen Zeit mit der Größe der Gesellschaft als Ganzes. In Frankreich wird dieses Spannungsverhältnis zum Beispiel besonders deutlich, wenn man ganz allgemein von der „Grande Nation“ spricht, die Bevölkerung sich aber in einer Art Dauerauflehnung zur Regierung befindet.

Aus heutiger Sicht scheint Freud da selbst einer Art religiösen Erlösungsfantasie auf dem Leim gegangen zu sein. Denn Wissenschaft ähnelt immer häufiger einer Religion, die dabei helfen soll, dass wir uns nicht so ohnmächtig und hilflos fühlen müssen.

Freud sieht letztlich aber auch keine Alternative zur Kultur, denn ohne sie drohe der Naturzustand. Intrapsychisch bliebe den Menschen im Prinzip nichts anderes übrig als die äußeren Zwänge zu verinnerlichen und sie über die Instanz des Über-Ichs zu den eigenen zu machen. Damit würden aus Kulturgegnern Kulturträger.

Der Beginn von Kulturen sind in Freuds Theorie die zentralen Triebverzichte, die von dem Einzelnen eingefordert würden: Der Inzest, der Kannibalismus und die Mordlust. Artefakte dieser Triebwünsche verortete Freud noch zu seiner Zeit. Der Kannibalismus sei zwar nur noch in gewissen analytischen Betrachtungen zu bemerken. Inzestwünsche dagegen seien noch hinter dem Tabu deutlich zu verspüren und Mord sei staatlich sanktioniert, unter bestimmten Bedingungen, immer noch erlaubt. Gleichzeitig gibt Freud den Ausblick, dass in Zukunft noch andere Triebverzichte hinzukämen, die in seiner Zeit noch unannehmbar erschienen. Was Freud wohl über social-distancing gedacht hätte? Zumindest konnte Freud noch an anderer Stelle hinzufügen, dass eben durch die stetig steigenden kulturellen Anforderungen der Mensch immer neurotischer werden würde.

Aktuell ist es sogar im Prinzip unmöglich den Anforderungen der Gesellschaft an den Einzelnen genüge zu tun. Der CO2-Fussabdruck jedes Einzelnen wird zur unlösbaren Schuld. Das Bedürfnis mit Freunden und Familie Zeit zu verbringen, könnte unter Corona-Bedingungen eine Sterbewelle nach sich ziehen.

Die verbale Bemerkung einer individuellen Besonderheit eines anderen Menschen könnte einem sofort als „rassistisch oder sexistisch“ ausgelegt werden. Die aktuellen Normen entstehen interessanter Weise alle aus akademischen Kreisen beziehungsweise der heutigen Wissenschaft, die Freud in besagten Essay „Zukunft einer Illusion“ erwartungsvoll begrüßte. Diese würden den Einzelnen aus den Fängen der Religionen befreien, die bisher für die Kulturen der Welt die Funktion hatten, die Menschheit aus ihrer Ohnmacht und Hilflosigkeit zu befreien. Religion beruhe dabei letztlich auf einer Vatersehnsucht, sprich der Erlösung durch einen Allmächtigen.

Aus heutiger Sicht scheint Freud da selbst einer Art religiösen Erlösungsfantasie auf dem Leim gegangen zu sein. Denn Wissenschaft ähnelt immer häufiger einer Religion, die dabei helfen soll, dass wir uns nicht so ohnmächtig und hilflos fühlen müssen. So kann man behaupten, dass die Gesellschaft heute als Ganzes eine große Vaterübertragung probt, die spätestens in der Corona-Krise nicht mehr zu übersehen ist. Einzelne Wissenschaftler sollten uns, so hoffen wir zumindest, endlich sagen, was wir tun und auf was wir verzichten sollen. Damit sollen die Wissenschaftler uns auch sagen wie ein sinnvolles Leben auszusehen habe. Wir scheinen als Kollektiv orientierungslos zu sein und wünschen uns nichts mehr als compliance-Regeln. Die Liberalisierung scheint psychodynamisch eine immer größere inhaltliche Leere im Über-Ich erzeugt zu haben. Doch den Über-Ich-Anspruch hat der Einzelne dabei nicht verloren.

Compliance klingt dabei auch einfach besser als Zwang, Verbot und Triebverzicht. Compliance würde es uns auch wieder ermöglichen ein Teil des „Großen Ganzen“ zu werden. Mit dem schönen Gefühl, uns dabei nicht einmal mehr mit einem militaristischen Nationalstaat identifizieren zu müssen, sondern wir sind, wenn wir compliant sind, „Helden“ beim Projekt der „Rettung der Welt“.

Trotz seiner teilweisen autoritären Einstellung gegenüber der Masse der Gesellschaft hatte Freud noch einen kritischen Einwand, der auch uns heute zu denken geben sollte. Freud bezweifelte, dass eine Kultur eine Elite hervorbringen könnte, die in ihrem Anliegen überlegen, unbeirrbar und uneigennützig sei und somit tatsächlich eine „bessere“ Gesellschaft durch gute Verbote ermögliche.

Gastbeitrag von Björn Käs